Neulich haben meine Frau und ich eine wunderschöne Wanderung in den Bergen unternommen. Viele kennen dieses Gefühl von Zufriedenheit, wenn sie einen steilen Pfad erklommen haben und an einem klaren Bergsee angekommen sind, und auch ich durfte das an diesem Tag erleben. Die Erhabenheit und die majestätische Ruhe des mächtigen Alpstein-Massivs ließen meinen Geist schweben. Ohne Schwierigkeiten fühlte ich mich mit meinem Atem und mit der Erde verbunden. Gleichzeitig fühlte ich eine Zuneigung zu all den Lebewesen auf dieser Erde, vor allem zu den Bergkröten, die immer wieder ihre Augen über die Wasseroberfläche reckten, gerade so als ob sie sich über eine Plauderei freuen würden.
Mit meiner Frau zusammen trank ich an diesem Tag am Ufer des Fählensees (ein See inmitten der Gipfel des Appenzeller Landes, wo wir wohnen) eine Schale Matcha-Tee, was mein Herz und meine Sinne mit noch mehr frischer Energie erfüllte. Eine Kraft tief in meinem Inneren sank mit dem grünen Tee hinunter ins Wasser des Sees. Meine Augen schienen über die Grenzen meines Körpers hinauszuwachsen und die machtvolle Ausstrahlung der schneebedeckten Gipfeln, gesäumt von federleichten Wölkchen am Aprilhimmel, einzusaugen. Was für ein fantastischer Ort, um dieses wunderbare Dasein einzuatmen und aufzunehmen!
Ich habe in meinem ersten Beitrag zu diesem Blog erwähnt, dass es für mich wichtig ist anderen zu helfen. Ich frage mich aber auch, was hilft wirklich? Wie helfen wir anderen tatsächlich? Ich kann diesen Moment am See sehr genießen. Doch wenn ich dann wieder weggehe, kann ich dann wirklich irgendjemandem in dieser komplexen Welt helfen?
Ich bewährte mich schon in jungen Jahren als ‚Helfer‘, als Pfleger für meinen älteren Bruder Michael, der an Duchenne Muskeldystrophie litt. Seinen Rollstuhl zu schieben, seine Beine zu massieren und seinen geschwächten Körper zur Toilette oder ins Bett zu tragen, waren für mich als Zwölfjährigen ganz selbstverständliche Aufgaben geworden. In dieser vertrauensvollen Atmosphäre von Brüderlichkeit fühlte ich mich sehr nützlich und eng verbunden mit jemandem, den ich liebte.
Es hat nicht immer Spaß gemacht, ein Helfer zu sein. Als Kinder und Teenager haben mein Bruder und ich dauernd gestritten. Aber ich wollte niemals, dass er leidet. Wenn ich ihn getragen habe, bin ich sicher manchmal unabsichtlich mit seinem Fuß an einen Türrahmen gestoßen und wenn ich ihm einen Schuh ausziehen wollte, habe ich seinen Knöchel vielleicht manchmal ein bisschen stark verdreht. Doch wir konnten uns beide diese Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens bewahren. Mein Halten war sanft und gleichzeitig sehr fest und Michael beschwerte sich nie über meine Arbeit. Er bedankte sich oft bei mir.
Als ich das erste Mal von Michaels Diagnose erfuhr, wollte ich ihn retten. Seine Krankheit war fatal. Er würde im Alter von 14 bis 20 Jahren sterben. Ich dachte, ich könnte irgendetwas tun, um die Lage zu verändern oder leichter zu machen. Ich denke, hier liegt die Wurzel meiner Suche, meiner Sehnsucht, Menschen zu helfen, die düsteren Vorstellungen von Krankheit und Tod zu überwinden.
Inzwischen kann ich leicht erkennen, wie der Buddhismus in mein Leben trat. Ich sehe auch, welch großartige Unterstützung seine Lehren und Übungen für mich sind und waren. Der Buddha sah den menschlichen Zustand als Leiden an, solange diese Überwindung von Anhaftung an den Körper und sein Vergehen nicht bewusst erfahren wird. Das ist der Weg eines Bodhisattva im Mahayana-Buddhismus. Er möchte das menschliche Leben durch Gewahrsein und Bewusstwerdung verbessern und er möchte dies mit anderen teilen. Es gibt mehr als Leben und Tod, und diese Erkenntnis kann unser Sein transformieren heraus aus völliger Selbstbezogenheit hin zu einem Leben in immer stärkerer Herzverbindung zu allen Lebewesen
Wenn ich über diese Momente von inniger Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung während meiner Kindheit als Michaels Pfleger nachdenke, dann merke ich, dass sie eigentlich kurze, stille Meditationen waren. Es waren konzentrierte rhythmische Tänze, die uns beide mit einem größeren Vertrauen in den Sinn des Lebens bereicherten. Wir liebten und wir vertrauten. Und genauso habe ich mich am See mit meiner Frau und den Fröschen gefühlt.
Nach den Jahren mit meinem Bruder fiel es mir nicht leicht, dieses Gefühl der Verbundenheit mit mir selbst oder einer anderen Person wieder zu verspüren. Und doch hat sich mit der Zeit etwas verändert und es sind gute Dinge geschehen. Ich erwarte nicht mehr, meine Sehnsucht nach Transzendenz zu erfüllen, indem ich ein Buch lese oder einen Workshop besuche, in ein fremdes Land reise oder eine bestimmte Person treffe. Transzendenz entsteht von innen heraus und bringt die Neigung des Verstandes, sich zu sorgen, Probleme zu lösen, etwas in Ordnung zu bringen oder auszugleichen, zur Ruhe. Ich erlebe Wut, Tränen und Leid, aber immer verbindet mich ein Licht mit denen, die ich vermisse, die ich verloren habe.
Michael verließ diese Welt 1985. Er war ein äußerst intelligenter und großherziger Mensch, aber er konnte der Bösartigkeit seiner Krankheit nicht entgehen und starb mit 24 Jahren. Während seines Lebens, denke ich, geschah Heilung. Ich nehme Michaels Präsenz jetzt als Lichtstrahl wahr, der durch meine eigene Person strahlt. Ich möchte bald mehr über Michael schreiben.
Vermutlich habe ich aufgrund meiner Familiengeschichte ein ‚Helfersyndrom‘ entwickelt. Doch mit wirklicher Hilfe von anderen, die das Transzendente sehr tiefgehend kennen, konnte ich den ‚Helfer‘-Weg einschlagen, der mich zu diesem Moment an den See in diesen prachtvollen Bergen mit meiner wunderbaren Frau und den neugierigen Fröschen gebracht hat. Es ist so ein Moment wie jene vertrauensvollen, innigen Momente, die ich aus meiner Kindheit mit meinem Bruder Michael kenne. Solche Momente teilen zu dürfen, ist sehr erfüllend.
Ich spüre sehr viel Energie um mich herum hier in diesem Winkel der Schweiz, den ich als meine neue Heimat bezeichnen darf. Ich spüre etwas Vertrautes, es fühlt sich wie die Energie des Zen an. Das ist ein gutes Gefühl und ich möchte versuchen, es zu beschreiben.
Was verstehe ich unter Zen? Ein bildhafter Vergleich von Zen und Jodo Shinshu Buddhismus könnte hilfreich sein. Jodo Shinshu hat in Japan deutlich mehr Anhänger als Zen. Im Jodo Shinshu soll man den Namen einer bedeutenden Gottheit dreimal täglich wiederholen. Wenn du das hinkriegst, wirst du, wenn dein Körper diese Erde verlässt, in das Reine Land hinübergehen. Du bist schon drin; sprich einfach diese Worte und glaube daran.
Zen wählt einen anderen Ansatz, um spirituelle Höhen zu erreichen. Es braucht die tägliche Hingabe, doch der Kern der Hingabe ist ein achtsames Leben. Und um die Achtsamkeit anzuregen, ist der Lebensstil der Zen-Praxis in vielerlei Hinsicht anstrengend. Es ist wie das Erklimmen eines steilen Berges, bei dem du Kratzer, Blessuren und Blut in Kauf nimmst, bis du schließlich auf dem Gipfel eine kurzzeitige Aussicht genießt, für die du hart gearbeitet hast, für die du dich verausgabt, dich aufgeopfert hast. Du nimmst einen tiefen Atemzug und hast vielleicht das Gefühl, selbst zum Berg geworden zu sein.
Und dann unterbricht plötzlich ein Motorengeräusch deinen Haiku-Moment. Ein großer Omnibus erscheint. Eine asphaltierte Straße führt den Berg herauf, und ein Shuttlebus fährt hinauf, um dich dort auf dem Gipfel einzuholen. Dieses Fahrzeug ist voller glücklicher Jodo Shinshu – Leute. Sie winken aus dem Fenster. Beim Aussteigen aus dem Bus freuen sie sich offensichtlich darüber, hier oben zu sein. Wir teilen die Aussicht, die Luft, den Berg.
Ich weiß nicht, was ein Jodo Shinshu-Anhänger weiß, aber der Zen-Praktiker voll Berg-Energie spürt in den Körper und den Atem der Natur hinein und empfindet eine unmittelbare Verbindung zum Leben selbst. Man möchte die Lebensenergie, die man selbst spürt, verwenden, um anderen Lebewesen zu dienen. Es fühlt sich an, als wäre es das Einzige, was man tun sollte.
Ich studierte Religion und Philosophie am College und ging 1985 nach Asien, um spirituelle Klarheit erlangen, mit dem Wunsch, mich selbst und die Welt zu verbessern. Das war vor vierzig Jahren.
Ich fand einen kraftvollen Zen-Meister in Okayama, Japan und blieb lange Zeit bei ihm. Ich liebte mein Leben mit Shodo Harada Roshi. Die Zen-Kultur, wie sie der Meister verkörperte, hat etwas, von dem man kaum den Blick abwenden kann, eine Präsenz, die feinsinnig und still und manchmal auch harsch und dominant ist. Es ist wie so ein mächtiger Berg, ein Anblick, den wir mit Spannung, ja sogar Ehrfurcht betrachten, wenn er am Horizont erscheint. Je näher wir kommen, desto ruhiger und klarer wird unser Geist. Doch seine Autorität fordert unsere Aufmerksamkeit, fast gegen unseren Willen.
Genau so fühlt es sich allmählich hier in Waldstatt an. Meine Frau und ich sind Anfang 2024 hierher gezogen, und je mehr ich mich dem eindrucksvollen Berg Säntis annähere und je länger ich in seiner Nähe verweile, desto intensiver spüre ich es. Unsere Umgebung ist wunderschön. Das Appenzeller Land ist so malerisch, dass man oft meint, mitten in einem Gemälde zu leben. Ist das vielleicht wirklich ein möglicher längerer Aufenthaltsort für das nächste Kapitel meines Lebens?
Als ich 1985 mit einem One-Way-Ticket nach Japan flog, hatte ich keinerlei Vorstellung, was mich erwarten würde. Ich hatte ich nicht vor, in einem dreihundert Jahre alten Tempel zu leben und ein Zen-Buddhismus-Mönch zu werden. Ich rasierte mir den Kopf und zog eine Robe an. Wir arbeiteten hart und schliefen wenig. Als ich ordiniert wurde, dachte ich, meine Bestimmung gefunden zu haben. Mein Lehrer gab mir den Namen DoYu, „Derjenige, der auf dem Weg ist, zu helfen“. Ich hätte mir niemals vorstellen können, das Leben im Tempel einmal hinter mir zu lassen.
Ich verließ es 2003 mit meinen Roben für eine Pilgerreise nach Indien, um Fragen zu stellen. Ich hatte keine Fahrkarte zurück nach Japan. Ich landete in Bayern mitten auf dem Land in einer dreihundert Jahre alten Mühle, die ein Unterstützungszentrum für Kinder und Familien wurde. Ich versuchte auch dort jedem zu helfen. Ich trug die Roben mit mir, aber ich zog sie nie an. Ich gewöhnte mich nach und nach an Haare und an weltliche Kleidung. Geld und Beziehungen stellten riesige Herausforderungen für mich dar.
Ich bin mit meiner Frau in die Schweiz gekommen und ich glaube nicht, dass wir sie so bald verlassen werden. Die Energie des Berges Säntis ist so stark, dass es mir unmöglich ist, mit ihm zugewandten Kopf zu schlafen. In einem Zen-Tempel wird der Stock benutzt, um die Mönche wach zu halten, und der Berg hier scheint zu bestehen, meinen Geist nicht zu vernebeln.
Ja, unser Haus ist über dreihundert Jahre alt. Ja, ich werde versuchen, Menschen zu helfen, weiß aber noch nicht, in welcher Form sich meine Arbeit zeigen wird. Doch ich werde diese meine Zeit in der Schweiz mit einem Vertrauen beginnen, das von Kapitel zu Kapitel meines Lebens immer stärker geworden ist. Der Berg Säntis spricht mit mir wie ein kraftvoller Zen-Meister. Seine tiefe Stimme sagt: „Diene deiner Frau und den Menschen um dich herum. Sei wach, leb mit Intensität, sei du selbst. Ich bin hier und du bist hier auch. Komm näher. Kannst du endlich erkennen, dass wir dasselbe sind ?“