Mark Albin

Ich spüre sehr viel Energie um mich herum hier in diesem Winkel der Schweiz, den ich als meine neue Heimat bezeichnen darf. Ich spüre etwas Vertrautes, es fühlt sich wie die Energie des Zen an. Das ist ein gutes Gefühl und ich möchte versuchen, es zu beschreiben.

Was verstehe ich unter Zen? Ein bildhafter Vergleich von Zen und Jodo Shinshu Buddhismus könnte hilfreich sein. Jodo Shinshu hat in Japan deutlich mehr Anhänger als Zen. Im Jodo Shinshu soll man den Namen einer bedeutenden Gottheit dreimal täglich wiederholen. Wenn du das hinkriegst, wirst du, wenn dein Körper diese Erde verlässt, in das Reine Land hinübergehen. Du bist schon drin; sprich einfach diese Worte und glaube daran.

snow mountain

Zen wählt einen anderen Ansatz, um spirituelle Höhen zu erreichen. Es braucht die tägliche Hingabe, doch der Kern der Hingabe ist ein achtsames Leben. Und um die Achtsamkeit anzuregen, ist der Lebensstil der Zen-Praxis in vielerlei Hinsicht anstrengend. Es ist wie das Erklimmen eines steilen Berges, bei dem du Kratzer, Blessuren und Blut in Kauf nimmst, bis du schließlich auf dem Gipfel eine kurzzeitige Aussicht genießt, für die du hart gearbeitet hast, für die du dich verausgabt, dich aufgeopfert hast. Du nimmst einen tiefen Atemzug und hast vielleicht das Gefühl, selbst zum Berg geworden zu sein.

Und dann unterbricht plötzlich ein Motorengeräusch deinen Haiku-Moment. Ein großer Omnibus erscheint. Eine asphaltierte Straße führt den Berg herauf, und ein Shuttlebus fährt hinauf, um dich dort auf dem Gipfel einzuholen. Dieses Fahrzeug ist voller glücklicher Jodo Shinshu – Leute. Sie winken aus dem Fenster. Beim Aussteigen aus dem Bus freuen sie sich offensichtlich darüber, hier oben zu sein. Wir teilen die Aussicht, die Luft, den Berg.

Ich weiß nicht, was ein Jodo Shinshu-Anhänger weiß, aber der Zen-Praktiker voll Berg-Energie spürt in den Körper und den Atem der Natur hinein und empfindet eine unmittelbare Verbindung zum Leben selbst. Man möchte die Lebensenergie, die man selbst spürt, verwenden, um anderen Lebewesen zu dienen. Es fühlt sich an, als wäre es das Einzige, was man tun sollte.

 

Ich studierte Religion und Philosophie am College und ging 1985 nach Asien, um spirituelle Klarheit erlangen, mit dem Wunsch, mich selbst und die Welt zu verbessern. Das war vor vierzig Jahren.

Ich fand einen kraftvollen Zen-Meister in Okayama, Japan und blieb lange Zeit bei ihm. Ich liebte mein Leben mit Shodo Harada Roshi. Die Zen-Kultur, wie sie der Meister verkörperte, hat etwas, von dem man kaum den Blick abwenden kann, eine Präsenz, die feinsinnig und still und manchmal auch harsch und dominant ist. Es ist wie so ein mächtiger Berg, ein Anblick, den wir mit Spannung, ja sogar Ehrfurcht betrachten, wenn er am Horizont erscheint. Je näher wir kommen, desto ruhiger und klarer wird unser Geist. Doch seine Autorität fordert unsere Aufmerksamkeit, fast gegen unseren Willen.

Genau so fühlt es sich allmählich hier in Waldstatt an. Meine Frau und ich sind Anfang 2024 hierher gezogen, und je mehr ich mich dem eindrucksvollen Berg Säntis annähere und je länger ich in seiner Nähe verweile, desto intensiver spüre ich es. Unsere Umgebung ist wunderschön. Das Appenzeller Land ist so malerisch, dass man oft meint, mitten in einem Gemälde zu leben. Ist das vielleicht wirklich ein möglicher längerer Aufenthaltsort für das nächste Kapitel meines Lebens?

 

Als ich 1985 mit einem One-Way-Ticket nach Japan flog, hatte ich keinerlei Vorstellung, was mich erwarten würde. Ich hatte ich nicht vor, in einem dreihundert Jahre alten Tempel zu leben und ein Zen-Buddhismus-Mönch zu werden. Ich rasierte mir den Kopf und zog eine Robe an. Wir arbeiteten hart und schliefen wenig. Als ich ordiniert wurde, dachte ich, meine Bestimmung gefunden zu haben. Mein Lehrer gab mir den Namen DoYu, „Derjenige, der auf dem Weg ist, zu helfen“. Ich hätte mir niemals vorstellen können, das Leben im Tempel einmal hinter mir zu lassen.

Ich verließ es 2003 mit meinen Roben für eine Pilgerreise nach Indien, um Fragen zu stellen. Ich hatte keine Fahrkarte zurück nach Japan. Ich landete in Bayern mitten auf dem Land in einer dreihundert Jahre alten Mühle, die ein Unterstützungszentrum für Kinder und Familien wurde. Ich versuchte auch dort jedem zu helfen. Ich trug die Roben mit mir, aber ich zog sie nie an. Ich gewöhnte mich nach und nach an Haare und an weltliche Kleidung. Geld und Beziehungen stellten riesige Herausforderungen für mich dar.

Ich bin mit meiner Frau in die Schweiz gekommen und ich glaube nicht, dass wir sie so bald verlassen werden. Die Energie des Berges Säntis ist so stark, dass es mir unmöglich ist, mit ihm zugewandten Kopf zu schlafen. In einem Zen-Tempel wird der Stock benutzt, um die Mönche wach zu halten, und der Berg hier scheint zu bestehen, meinen Geist nicht zu vernebeln.

Ja, unser Haus ist über dreihundert Jahre alt. Ja, ich werde versuchen, Menschen zu helfen, weiß aber noch nicht, in welcher Form sich meine Arbeit zeigen wird. Doch ich werde diese meine Zeit in der Schweiz mit einem Vertrauen beginnen, das von Kapitel zu Kapitel meines Lebens immer stärker geworden ist. Der Berg Säntis spricht mit mir wie ein kraftvoller Zen-Meister. Seine tiefe Stimme sagt: „Diene deiner Frau und den Menschen um dich herum. Sei wach, leb mit Intensität, sei du selbst. Ich bin hier und du bist hier auch. Komm näher. Kannst du endlich erkennen, dass wir dasselbe sind ?“

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